Greener Cities Issue #002 |
Der Wald kommt in die Stadt
In unserem ISSUE #001: Welcome to the Jungle haben wir umrissen, worin wir die Zukunft eines sinnvolleren und humaneren Lebensmodells sehen. Neben einem veränderten Konsum spielen dabei unsere Städte eine zentrale Rolle. Schon heute leben 50 % der Weltbevölkerung in Städten, bis 2050 werden es mehr als zwei Drittel sein. Der Wandel muss also dort sichtbar werden, wo unser Lebensmittelpunkt ist – in den Stadtteilen.
Als wir im Juli über mögliche Locations für unser nächstes Foto-Shooting sprachen, kam fast von selbst das Bosco Verticale in Mailand auf die Agenda. Wir beschäftigen uns seit Jahren mit den Themen Urban Gardening und Vertical Farming, und das Projekt des Architekten Stefano Boeri stellte bereits bei Baubeginn 2008 einen wegweisenden Ansatz dar, um Flora und Fauna zurück in die Stadt zu holen.
Die Zwillingstürme des Bosco Verticale fanden wir inmitten des neuen, von Fußgängerzonen und Radwegen durchzogenen Stadtteils Porta Nuova, wo schimmernde Glasfronten und mehr als ein Dutzend moderne Hochhäuser die Skyline dominieren. Hier wächst ein neues, urbanes Zentrum rund um die Piazza Gae Aulenti. Nach fünfjähriger Bauzeit und der Fertigstellung im Oktober 2014 steht hier das Bosco Verticale, der vertikale Wald in spannendem Kontrast zu den cleanen Glasstahlbauten des modernisierten Bahnhofsviertels.
Aufforsten in der Vertikalen
900 Bäume und über 20.000 Pflanzen bewachsen die Terrassen und Balkone der Türme, an deren Fassaden tiefe Betonwannen mit Bodengittern eingelassen wurden, um den Wurzeln der Pflanzen auch bei Wind und Sturm Halt zu bieten. Fast ein ganzes Jahr dauerte die Bepflanzung.
Botaniker:innen der Universität Mailand wählten 20 verschiedene Laub- und Nadelbaumarten sowie über 80 verschiedene Pflanzenarten für den Bewuchs und passten sie durch Zucht optimal den Wachstumsbedingungen in den flachen Pflanzwannen an. Sie mussten sogar in den Windkanal, um ihre Reaktionen auf den Höhenwind zu testen. Über zwei Jahre beanspruchte die planerische Anordnung der Pflanzen, die im Laufe der Jahreszeiten den Fassaden durch die wechselnden Farbakzente ein immer neues Aussehen verleihen.
Die Fassadenbepflanzung ist kein Privat-, sondern Gemeinschaftseigentum der Bewohner:innen. „Fliegende Gärtner“, die sich an Kränen vom Dach der Gebäude abseilen, pflegen die Pflanzen. Bewässert werden sie nachhaltig über ein Schlauchsystem, das das Wasser aus einem Sammelbecken im Keller in die Pflanzwannen pumpt.
Re-Natur-ierung
Die Bewohner des Bosco Verticale profitieren durch ein gesünderes Mikroklima, das dank des dichten Bewuchses in ihren Wohnungen herrscht: Die Pflanzen erzeugen Feuchtigkeit, absorbieren Staubpartikel und Kohlendioxid und setzen dafür Sauerstoff frei. Sie wirken außerdem als thermische Isolation, bei Hitze reduzieren sie die Temperatur im Gebäudeinneren und schirmen es gegen Kälte ab.
Für die Großstadt Mailand bedeutet diese neuartige Nutzung von Architektur eine Verbesserung der Biodiversität – die vielfältigen Pflanzenarten der Türme bieten neue Lebens- und Nahrungsräume für Vögel und Insekten. Man hat inmitten der Großstadt eine Waldfläche von über 7.000 m² geschaffen. Der vertikale Bau wirkt außerdem einer weiteren Zersiedelung der Stadt entgegen; würde man den gleichen Wohnraum in Form von Einfamilienhäusern schaffen, müsste man dafür der umgebenden Natur eine Fläche von 7,5 Hektar abringen.
Boeri hat mit seinen immergrünen Zwillingstürmen ein neues Potenzial der Hochhausarchitektur offengelegt: Es geht nicht mehr um Höhenrekorde, sondern um Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und besseres Wohnen. Biologische Vielfalt kann in den urbanen Raum zurückgeholt werden und schafft gleichzeitig ein neues Stadtbild. Das ganzheitliche Design rückt in den Fokus: Architektur und Technik kommen in Einklang mit Mensch und Natur.
Für die Milanes:innen und die fast sieben Millionen – Tourist:innen, die jedes Jahr in die Stadt kommen, ist das Bosco Verticale zu einem neuen Wahrzeichen geworden. Mailand, das sonst als Fashion-Hauptstadt und Shopping-Mekka gilt, wird damit städteplanerisch zu einer Metropole der Nachhaltigkeit.
Besser für uns
Zukunftsmodelle wie das von Stefano Boeri zeigen auch Lösungen für die negativen psychosozialen Effekte unseres modernen Großstadtlebens – wie Vereinsamung, Verwahrlosung von öffentlichen Räumen und Stress.
Die Wirkung der Natur inmitten des Stadtbildes ist unmittelbar: Lebendigkeit statt Anonymität hinter grauen Fassaden, eine sich im steten Wandel befindende Umgebung, die jeden Tag neue Entdeckungen und Interaktionen ermöglicht. Unachtsamkeit und staubige Tristesse gehen zurück, umso mehr Mensch und Umgebung im harmonischen Verhältnis stehen. Das urbane Dickicht schluckt Lärm und Hektik und entschleunigt.
Meet our vision
Kaskadierende Sträucher und Gebäude, die mit Pflanzen verschmelzen – in unserer Vorstellung einer zukünftigen Green City sind das einige von vielen Gestaltungselementen, um immer mehr grüne Oasen zu schaffen. Das Ziel ist eine Rückgewinnung des öffentlichen Raums: das Schaffen von Plätzen, an denen man sich gemeinsam wohl fühlt, und um die man sich gemeinsam kümmert. Momentan muss man solche Plätze suchen, weil sie rar sind. Viele Parks, Spielplätze oder Grünflächen sind verwahrlost und unbetretbar. Sobald sich die Idee durchsetzt, dass all diese Orte unser gemeinsamer Dorfplatz und unser Garten sind, wird sich hoffentlich auch die Art fundamental verändern, wie wir unsere Städte gestalten.
Boeri hat mit dem Bosco Verticale einen architektonischen Grundstein für diese zukünftigen Green Cities gelegt. Mit seinem Folgeprojekt, den Nanjing Green Towers, entsteht bis 2020 der erste Vertical Forest in Asien - ein Ansatz, um dem immensen Smog-Problem vieler chinesischer Städte Herr zu werden.
Wir beobachten die Entwicklung mit großer Spannung und sehen in dem beeindruckenden Bosco Verticale einen Prototyp für die lebenswerteren Städte von morgen, in denen Mensch, Natur und Urbanität in Symbiose stehen.